[Pfeffergarten und Vogelgesang]
Alles Steif-Regelmäßige (was der mathematischen Regelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackswidrige an sich: daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung desselben gewährt, sondern, sofern es nicht ausdrücklich das Erkenntniß, oder einen bestimmten praktischen Zweck zur Absicht hat, lange Weile macht. Dagegen ist das, womit Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu, und man wird seines Anblicks nicht überdrüssig. Marsden in seiner Beschreibung von Sumatra macht die Anmerkung, daß die freien Schönheiten der Natur den Zuschauer daselbst überall umgeben und daher wenig Anziehendes mehr für ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die Stangen, an denen sich dieses Gewächs rankt, in Parallellinien Alleen zwischen sich bilden, wenn er ihn mitten in einem Walde antraf, für ihn viel Reiz hatte; und schließt daraus, daß wilde, dem Anscheine nach regellose Schönheit nur dem zur Abwechselung gefalle, der sich an der regelmäßigen satt gesehen hat. Allein er durfte nur den Versuch machen, sich einen Tag bei seinem Pfeffergarten aufzuhalten, um inne zu werden, daß, wenn der Verstand durch die Regelmäßigkeit sich in die Stimmung zur Ordnung, die er allerwärts bedarf, versetzt hat, ihn der Gegenstand nicht länger unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen lästigen Zwang anthue: wogegen die dort an Mannigfaltigkeiten bis zur Üppigkeit verschwenderische Natur, die keinem Zwange künstlicher Regeln unterworfen ist, seinem Geschmacke für beständig Nahrung geben könne. — Selbst der Gesang der Vögel, den wir unter keine musikalische Regel bringen können, scheint mehr Freiheit und darum mehr für den Geschmack zu enthalten, als selbst ein menschlicher Gesang, der nach allen Regeln der Tonkunst geführt wird: weil man des letztern, wenn er oft und lange Zeit wiederholt wird, weit eher überdrüssig wird. Allein hier vertauschen wir vermuthlich unsere Theilnehmung an der Lustigkeit eines kleinen beliebten Thierchens mit der Schönheit seines Gesanges, der, wenn er vom Menschen (wie dies mit dem Schlagen der Nachtigall bisweilen geschieht) ganz genau nachgeahmt wird, unserm Ohre ganz geschmacklos zu sein dünkt.
Aus: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), § 22, Akademie-Ausgabe, Band V, S. 242 f.
[Ursprung des Vogelgesangs]
Zwar lehren die Singvögel ihren Jungen gewisse Gesänge und pflanzen sie durch Tradition fort: so daß ein isolirter Vogel, der noch blind aus dem Neste genommen und aufgefüttert worden, nachdem er erwachsen, keinen Gesang, sondern nur einen gewissen angebornen Organlaut hat. Wo ist aber nun der erste Gesang hergekommen*; denn gelernt ist dieser nicht, und wäre er instinctmäßig entsprungen, warum erbte er den Jungen nicht an? ――――――――――
* Man kann mit dem Ritter Linné für die Archäologie der Natur die Hypothese annehmen: daß aus dem allgemeinen Meer, welches die ganze Erde bedeckte, zuerst eine Insel unter dem Äquator als ein Berg hervorgekommen, auf welchem alle klimatische Stufen der Wärme von der des heißen am niedrigen Ufer desselben bis zur arktischen Kälte auf seinem Gipfel sammt den ihnen angemessenen Pflanzen und Thieren nach und nach entstanden; daß, was die Vögel aller Art betrifft, die Singvögel den angebornen Organlaut so vielerlei verschiedener Stimmen nachahmten und jede, so viel ihre Kehle es verstattete, mit der anderen verbanden, wodurch eine jede Species sich ihren bestimmten Gesang machte, den nachher einer dem andern durch Belehrung (gleich einer Tradition) beibrachte; wie man auch sieht, daß Finken und Nachtigallen in verschiedenen Ländern auch einige Verschiedenheit in ihren Schlägen anbringen.
Aus: Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798, 2. Aufl. 1800), Akademie-Ausgabe, Band VII, S. 323
[Singvogelunterricht]
Der Mensch braucht Wartung und Bildung. Bildung begreift unter sich Zucht und Unterweisung. Diese braucht, soviel man weiß, kein Thier. Denn keins derselben lernt etwas von den Alten, außer die Vögel ihren Gesang. Hierin werden sie von den Alten unterrichtet, und es ist rührend anzusehen, wenn wie in einer Schule die Alte ihren Jungen aus allen Kräften vorsingt, und diese sich bemühen, aus ihren kleinen Kehlen dieselben Töne herauszubringen. Um sich zu überzeugen, daß die Vögel nicht aus Instinct singen, sondern es wirklich lernen, lohnt es der Mühe, die Probe zu machen und etwa die Hälfte von ihren Eiern den Canarienvögeln wegzunehmen und ihnen Sperlingseier unterzulegen, oder auch wohl die ganz jungen Sperlinge mit ihren Jungen zu vertauschen. Bringt man diese nun in eine Stube, wo sie die Sperlinge nicht draußen hören können: so lernen sie den Gesang der Canarienvögel, und man bekommt singende Sperlinge. Es ist auch in der That sehr zu bewundern, daß jede Vogelgattung durch alle Generationen einen gewissen Hauptgesang behält, und die Tradition des Gesanges ist wohl die treueste in der Welt.
Aus: Immanuel Kant über Pädagogik, hgg. von Friedrich Theodor Fink (1803), Akademie-Ausgabe, Band IX, S. 443
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