Ralf Heinrich Arning

Was ist eigentlich eine Standardsprache?

Eine Standardsprache ist keine Kunstsprache und damit auch keine Plansprache. Sie wird nicht neu erschaffen, aber es wird auf sie eingewirkt, wodurch sie bewußt verändert wird. Denn mit künstlichen Sprachen hat sie gemein, daß an sie Forderungen gestellt werden, denen sie genügen soll.

Eine Sprache wird nicht Standardsprache genannt, weil sie Maßstab für andere Sprachen wäre, sondern weil sie über Standards verfügt, die über den unmittelbaren Spracherwerb hinaus Orientierungen liefern. Diese Standards können im Widerspruch stehen zu dem, was man als Kind von den Eltern oder Erziehern gelernt hat.

Alle Sprachen werden erlernt. Nicht-Standardsprachen kennen als Autorität nur die Eltern und andere erwachsene Bezugspersonen und Vorbilder, die im Laufe des Lebens an Bedeutung verlieren und durch das internalisierte Sprachwissen und Sprachgefühl verdrängt werden. Die Orientierung ist dann individuell. Die Sprecher sind kompetent und stellen Autoritäten für heranwachsende Sprecher dar. Dieser Lernprozeß läuft auch in der Standardsprache ab, wird aber ergänzt durch den Einfluß normativer Instanzen, die unabhängig von den Menschen existieren, die die Sprache direkt den Kindern beibringen. Dadurch erlernen Menschen eine Sprache, die sich von der ihrer Eltern unterscheidet. Und sie geben eine Sprache weiter, die bereits von Standards geprägt ist, die unabhängig vom jeweiligen Lernprozeß bestehen.

Die Standards der Standardsprache sind überindividuell und damit unabhängig von der Erinnerung einzelner. Die Instanzen, auf die sich die Sprecher einer Standardsprache beziehen können sind: Wörterbücher, Grammatiken, Aussprache- und Stilbücher. Es sind konkurrierende Bücher dieser Art möglich. Eine politisch autorisierte Macht, die für die Erstellung und Aktualisierung dieser Nachschlagewerke verantwortlich wäre, ist nicht erforderlich. Wesentlich ist, daß es überhaupt solche Werke mit dem Anspruch, Orientierung zu liefern, gibt und daß sie als solche anerkannt und benutzt werden.

Die genannten Instanzen setzen voraus, daß es eine Schrift gibt. Die Sprache muß verschriftlicht sein. Schrift und Sprache sind nicht dasselbe. Aber eine Sprache, die verschriftlicht ist und in großem Umfang schriftlich benutzt und verbreitet wird, ist eine Sprache anderer Art als eine, die allein mündlich verwendet wird. Was rein mündlich geäußert wird, ist flüchtig und vom Gedächtnis der Hörer abhängig. Das Schriftliche bleibt im Wortlaut erhalten. Wird die Schreibweise einer Sprache mit Schrift verändert, so wird damit auch diese Sprache verändert. Gleichwohl ist festzuhalten, daß erstens verschriftliche Sprachen ihre mündliche Seite behalten und sich auch dort verändern und daß zweitens zwischen einer rein mündlichen Sprache und einer verschriftlichten, die zudem über noch normative Instanzen verfügt, eine Variationsbreite an Möglichkeiten besteht. Im Prozeß der Standardisierung einer Sprache werden solche Möglichkeiten nach und nach durchschritten.

Normativ wirkenden Nachschlagewerke lösen den Standard von maßgeblichen Personen ab, von den Eltern, Lehrern, Dichtern oder Sängern, Rednern. Denn auch die orientieren sich mehr oder minder an solchen Werken. Gleichwohl bleibt die Wirkung von Mustertexten erhalten, von «Literatur». Darin werden einige Standards fixiert. Sie bremsen damit den sprachlichen Wandel. Zugleich werden sie als Quellen von denen herangezogen, die Wörterbücher und Grammatiken schreiben. Die Aufnahme von Beispielen aus geschriebenen Texten in die sprachwissenschaftliche Reflexion, die hinter der Erstellung von Nachschlagewerken steht, ist ein Grundzug der Standardsprachen. Das ist eben der Unterschied zu Kunstsprachen.

Standardisierung bedeutet, etwas Vorhandenes gegenüber anderem als modellhaft zu bevorzugen, da es als gelungen, nützlich und brauchbar erscheint. Dies schließt nicht aus, daß aus dem Wortschatz und der Grammatik anderer Sprachen entlehnt wird – sowohl auf der Ebene des Abfassens von Texten als auch auf der Ebene der Reflexion über die Sprache. Die reflektierte lateinische Grammatik, die selbst an der griechischen orientiert war, wirkte auf die grammatikalische Reflexion der westeuropäischen Volkssprachen modellhaft. Dennoch gab es etwa in der Entwicklung des Hochdeutschen zur Standardsprache Vorbilder in der nicht-lateinischen Rechts- und Verwaltungssprache sowie in der Volkssprache. Dazwischen lagen die Dichtung von Liedern und Theaterstücken und die verschriftlichten Fassungen von Sagen. Das Vorhandensein solcher Quellen ist die Bedingung der Standardisierung, vielleicht kann man darin sogar erste Ansätze dazu erkennen. Die wirkliche Standardisierung findet jedoch erst statt, wenn auf der geschilderten Grundlage erstens Texte entstehen, die eine große Verbreitung finden, wenn zweitens diese Texte als modellhaft anerkannt werden, wenn drittens die so entstehende Sprache in zunehmendem Maße wissenschaftlich untersucht und viertens in Schulen unterrichtet wird.

Denn das ist ein weiteres wesentliches Merkmal von Standardsprachen: Sie werden weitreichend benutzt. Sie dienen als überregionale Verkehrssprachen und können zur Verständigung zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Gruppen verwendet werden, die ihrerseits die Standardsprache um Fach- oder Milieusprachen erweitern. Solche Erweiterungen sind keine Vergrößerung. Sie stehen jedoch in enger sprachlicher Verbindung einer Standardsprache, denn sie verwenden weitgehend deren Grammatik und Wortschatz. Es kommen lediglich neue Ausdrücke hinzu, oder einige Wörter erhalten eine spezielle Bedeutung. Insbesondere in den Milieusprachen von Subkulturen sind auch grammatische Veränderungen oder Bevorzugungen bestimmter syntaktischer Strukturen und dergleichen zu beobachten.

Die Standardsprache ist also die Voraussetzung für solche soziologisch abgrenzbaren Erweiterungen. Dies ist einer der Gründe dafür, den Ausdruck «Varietät» in linguistischem Zusammenhang zu meiden, denn er suggeriert ein Nebeneinander von Varietäten oder vielleicht noch deren Überlappen. Die Standardsprache steht aber nicht neben anderen Varietäten, sondern ist deren Voraussetzung, während sie umgekehrt nicht auf die Fach- und Milieusprachen angewiesen ist, um ihre Funktionen zu erfüllen. Dieses Verhältnis wird durch den Ausdruck «Varietät» verschleiert. Der Terminus «Standardvarietät» ist dadurch sinnwidrig. «Standard» wird zugleich behauptet und der Bedeutung nach bestritten, als ob etwa ein Soziolekt unabhängig von der Standardsprache gesprochen werden könnte. (Es sprechen noch andere Gründe gegen «Varietät» in der Linguistik, insbesondere die Umdeutung des Begriffs der Sprache, die damit zusammenhängt. Aber das soll einmal gesondert behandelt werden.)

Wegen ihrer weitreichenden Brauchbarkeit ist die Standardsprache etwas anderes als solche Abstandssprachen, die zwar überregional, aber nur in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen maßgeblich sind, etwa Latein als Sprache der Kirche und der Wissenschaft vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert in Teilen Europas, Hebräisch oder Hocharabisch im religiösen Judentum beziehungsweise im Islam, Französisch in der Diplomatie vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Das letzte Beispiel zeigt, daß dieselbe Sprache sowohl Standardsprache sein kann, nämlich in Frankreich und einigen anderen Ländern, anderswo aber andere Funktionen übernimmt.

Die Erhebung des Hochdeutschen zur Amts- und Kirchensprache hat im niederdeutschen Sprachraum nicht dazu geführt, daß es außerhalb von Verwaltung und von Rechtsangelegenheiten in irgendeiner Weise Richtschnur gewesen wäre. Es war bestenfalls eine Zweitsprache oder eben die Bildungssprache für diejenigen, die höhere Schulen und Universitäten besuchten. Hochdeutsch nahm in der Wissenschaft die Konkurrenz zum Lateinischen auf, ähnlich wie es in den betreffenden Ländern auch das Französische oder Englische taten.

Erst seine Durchsetzung in der Schule und damit als Gegensprache zur Sprache der Eltern führte dazu, daß Hochdeutsch eine weitere Bedingung der Standardsprache erfüllte, die prinzipielle Schichtenunabhängigkeit und die überregionale Verbreitung. Mit der Durchsetzung der Schulpflicht gilt das in besonderem Maße. Daß sich die Kompetenzen in einer Standardsprache je nach Bildung und Elternhaus weiterhin unterscheiden, daß es weiterhin starke regionale Einfärbungen in Aussprache und auch in Wortschatz und Grammatik gibt, tut dem keinen Abbruch. Die Schulen übergreifen die Familien. Mit ihren Lehrplänen wirken sie überregional. Der Sprachunterricht mitsamt seinen Lehrmitteln ist an die genannten Instanzen gebunden.

Wo auch immer Neuerungen in der Sprache entstehen mögen, setzen sie sich auf Dauer nur durch, werden nur dann als Standard anerkannt, wenn sie in den Schulen vermittelt werden. Ein Nachschlagewerk hat nur dann mit seinen Neuerungen wirklich durchschlagenden Erfolg, wenn es für die Schulen als maßgeblich gilt. Dabei ist nicht relevant, ob es dazu von den Schulbehörden berufen wurde. Entscheidend ist die Wirkung. Der Hang, etwas Standardisiertes Standard bleiben zu lassen und nicht durch Neuerungen zu ersetzen, begrenzt die Wirkungsmacht von Sprachhandbüchern, die gewissermaßen mit ihren eigenen älteren Auflagen konkurrieren. Bei den Sprachnutzern gibt es zugleich eine Kreativität, dir Neues hervorbringt, und einen Konservatismus, der das, woran man sich zu orientieren gewohnt ist, nicht von letztlich anonymen Personen verändert haben will.

Im großen und ganzen wird der Sprachwandel nicht von den Wörter- und Grammatikbuchredakteuren erfunden, sondern aufgegriffen. Mag sein, daß hier und da auch einmal etwas erfunden wurde oder eine Beobachtung an der Sprache überschätzt wurde. Die Neuerung entstehen in starkem Maße nicht durch die Standardisierungsinstanzen, sondern unabhängig davon oder in Auseinandersetzung damit. Das verleitet dazu, den bloßen Sprachgebrauch nach statistischen Kriterien zum Standard zu erklären. Die größere Genauigkeit, z. B. in der Deklination, die man sonst der Standardsprache gegenüber der Umgangssprache zubilligt, gilt dann nicht mehr als Kriterium, sondern die Häufigkeit, mit der Endungen weggelassen werden (z. B. «dem Bär» statt «dem Bären»), ist entscheidend dafür, in die Grammatik aufgenommen zu werden.

Daneben gibt es durchaus das Bemühen mancher Sprachwissenschaftler, Sprachpolitik zu treiben und die eigenen Vorstellungen von der Sprache, wie sie sein sollte, in solchen Gremien durchzusetzen, die staatlicherseits oder zwischenstaatlicherseits dazu eingesetzt wurden, beispielsweise die Rechtschreibung zu reformieren. Die Ansprüche, die manche der Beteiligten hatten und noch haben, gehen weiter als der Ersatz des «ph» durch das «f» oder des «e» durch das «ä» oder umgekehrt. Diese Ansprüche sind auch nichts Neues, konkurrierende Ansprüche auch nicht. Sie gehören zu einer Standardsprache dazu wie auch Autoren, die sich Standards und Gepflogenheiten gezielt widersetzen und damit auf andere vorbildhaft wirken.

Standardsprachen haben also nicht einfach Standards, die in Nachschlagewerken festgehalten werden, an denen sich Schreiber und Sprecher orientieren können und die die Grundlage für den Sprachunterricht bilden. In Standardsprachen stehen diese Standards ständig zur Disposition. Man orientiert sich zwar daran, aber man bestreitet sie auch oder streitet darum.

Dadurch ist der Sprachwandel in Standardsprachen im Vergleich zu nicht oder kaum verschriftlichten Sprachen komplizierter. Es gibt ihn aber prinzipiell. Und auch das ist ein Unterschied zu einer künstlichen Sprache. In der Standardsprache steckt der Anspruch der Verbesserung. Standardisierungsinstanzen wählen und propagieren die bessere der bekannten Möglichkeiten. Praktiker und Theoretiker suchen nach Möglichkeiten, besser als der Standard zu werden. Normgebend wirken sprachliche Vorbilder, die Nachahmer finden. Die häufige Nachahmung wird dann zum Kriterium, in Nachschlagewerken anerkannt zu werden und dann auf anderer Ebene als Orientierung zu dienen.

Insofern ist die Standardsprache auch eine «natürliche Sprache». Man weiß allerdings einiges über ihr Wachstum. «Natürlich» wird häufig falsch verstanden als ‹frei von menschlichem Einfluß›. Als künstlich gilt, was der Mensch gemacht hat. So unterscheidet man die Kunstfaser von der Naturfaser. Aber im Zusammenhang von menschlichen Fähigkeiten menschliche Einwirkungen als «unnatürlich» aufzufassen, ist absurd. Ist die Einwirkung des Menschen auf seine Sprache unnatürlich? Ist es unnatürlich, daß der Mensch über seine Sprache nachdenkt und praktische Folgerungen daraus zieht. Ist es unnatürlich, daß Menschen dies in Gruppen tun und ihr Tun Auswirkungen für andere hat? Womöglich gilt Reflexion über die eigenen, die menschlichen Fähigkeiten manchen bereits als unnatürlich. Wenn manche Sprachwissenschaftler an das Sprachgefühl appellieren, ja geradezu davon schwärmen, dann zwingt sich einem dieser Eindruck auf.

Aber wenn die Anwendung menschlicher Fähigkeiten im Verdacht steht, unnatürlich zu sein, gälte das dann nicht auch für die natürliche, die also vermeintlich natürliche Sprache? Dieser Meinung muß man nicht sein. Die Standardsprache ist lediglich eine Fortentwicklung der menschlichen Sprache überhaupt und damit durchaus natürlich.

Text: Ralf Heinrich Arning Erstveröffentlichung: 04.08.2009
Letzte Änderung: 14.12.2011
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